Livereview: Schandmaul - The Seer
03. Mai 2008 Volkshaus, Zürich
By Kissi
Samstag Abend, ein sonniger Samstag Abend und doch ist einem nicht geheur. Rund ums Volkshaus karren in VW-Bussen bis zu den Zähnen bewaffnete Polizisten durch die Strassen Zürich, darauf gefasst, im nächsten Moment auf eine Gruppe Randalierender und Linksautonomer zu stossen. All jene, die zu diesem Zeitpunkt (18.00 Uhr) schon vor dem eben genannten Volkshaus ausharren, bis dessen Türen endlich geöffnet werden, kratzt das nicht. Grund für die Warterei der überraschend zahlreichen Menge: Die deutschen Mittelalter Folk Rocker Schandmaul gaben sich zum Ende ihrer «Anderswelt»-Tour die Ehre in Zürich. Das sechste und auch erfolgreichste Album der Spielleute aus dem grossen Kanton kletterte in der Schweiz auf Platz 44 und in ihrer Heimat gar auf Rang 8. So erstaunte es nicht, dass das ehrwürdig Volkshaus bis auf den letzten Platz vollgestopft war mit Fans unterschiedlichster Couleur (vom Lack-und-Leder-Goth über Wikinger und Blumenkinder zum Slayer-Shirts tragenden Metallern) als die Schandmäuler zu einer zweistündigen Reise in die «Anderswelt» aufspielten.

The Seer
Vorbereitet wurde der Fantasie-Trip zuerst aber von den Augsburger Alternative-Folk-Veteranen The Seer, deren harmonierendes Soundgemisch aus U2, Placebo, The Cure und irischen Klängen das Publikum in kürzester Zeit zum Schwitzen bringen konnte. Denn dem Umstand, dass die schon etwas älteren Herren die Väter für viele der Anwesenden sein könnten, zum Trotz vermittelt das Quintett um den drahtigen Frontmann Mike Nigg eine ungeheure Spielfreude. Wie so oft im Volkshaus konnte sich auch der Sound vom ersten Ton an hören lassen, sowohl in Sachen Druck als auch Klarheit. Dabei weisen die radiokompatiblen Songs durch Geiger Jo Corda (der auch zur Mandoline greift) mal keltischen, mal country-haften und dann wieder bluegrass-artigen Spirit auf, wobei gerade die folk-lastigen Nummern wie «The One» oder «Please» den Schandmaul-Fans Zucken in Beinen und Köpfen beschehrte. Verständlich also, dass die Schandmäuler selbst The Seer als Support gewählt hatten, coverten sie doch ganz zu Beginn ihrer Karriere mehrere Songs des Fünfers, der mit seinem Debüt «Across The Border» 1995 zu den Begründern des Genres in Deutschland gezählt werden kann. Dass nach dem Abgang des Sehers aber trotzdem sogleich lautstarke «Schandmaul»-Chöre aufbrandeten versteht sich von selber.

Schandmaul
Dann schländern die sechs Schandmäuler grinsend auf die in blaues Licht getauchte Bühne und als mit «Wolfsmensch» die ersten Schalmeien-, Violinen- und Gitarrenklänge ertönen gibt es für die nahezu 2000 Fans kein halten mehr und die Temperatur im Volkshaus steigt auf gefühlte 60°C. Schandsänger Thomas Lindner wird dabei wie immer flankiert von den Teufelsweibern Birgit Muggenthaler und Anna Kränzlein, deren Rückendeckung die erhöht situierte Rockfraktion Stefan/Ducky/Matthias bildeten. Allesamt sind sie dabei in extravagante Kleider gewandet (www.aderlass.com), die neben dem Publikum und der perfekt auf die Musik abgestimmte, farbenfrohe Lightshow, sicherlich auch ein Grund sind, warum Thomas schon zu «Herren der Winde» vom Kinn tropft wie ein Wasserspender. Neu ins Bühnenbild gekommen sind vier von der Decke hängende Projektionsflächen, auf welchen sich fantasievolle und stimmungskräftige Lichtmuster tummeln, während unter ihnen Anna mit verführerischen Bewegungen und Drehleier passend zum «Lichtblick» die Männeraugen auf sich zieht. Dass Thomas mit einer giftigen Erkältung zu kämpfen hat merkt man der Gesangsleistung des kahlköpfigen Barden zwar schon an, seiner Bitte ans Publikum, ihn an diesem Abend stimmgewaltig zu unterstützen kommen die Anwesenden aber nur zu gerne nach und so geraten auch neue Songs wie «Zweite Seele», das schalkige «Missgeschick» oder das märchenhafte «Anderswelt» zu wahren Chorstücken. Zum «Geisterschiff» von «Wie Pech und Schwefel» werden im wahrsten Sinne des Wortes die Segel gesetzt (hinter dem Drumkit werden weisse, zerfetzte Tücher aufgezogen) und zur beschwingten «Mitgift» verfällt die gesamte Halle in einen Tanzrausch, in welchem sich die Musiker schon längst befinden, wechselt das Sextett doch andauernd die Plätze und kann beim besten Willen keinen Fuss stillhalten. Die ausgelassene Feierstimmung kann da auch der etwas zu leise Sound nicht verderben, werden die Fans ansonsten doch mit einem glasklaren Sound verwöhnt. „Drei Stufen des Tourwahnsinns gibt es zu unterscheiden“, erklärt Flötenspezialistin Birgit darauf, „Die erste zeigt sich im schleichenden Verlust von Sprachvermögen und Stimme, also von 'kannst du mir ne Zigarette geben' zu 'hm, zigarette!'. Die zweite Stufe betrifft das Abhandenkommen von Hygiene und gepflegtem Aussehen, von Frisur zu Vogelnest und Wohlgeruch zu Schwefelausdünstung. Bei Nummer drei angelangt wird die ganze Sache dann ansteckend und alle, die mit einem in Berührung kommen verfallen diesem Wahnsinn... wenn ich euch so betrachte sind wir an diesem Punkt nun endgültig angekommen – ihr seid total wahnsinnig!“ Dies beweisen die Anwesenden natürlich gleich zu «Feuertanz» oder dem lange nicht mehr dargebotenen «Talisman», bevor mit dem melancholischen «Grosses Wasser» eine kurze Verschnaufspause anstand. Diese war auch wirklich nötig, denn mit dem aktuellen, ein wenig an Flogging Molly erinnernden Instrumental «Fiddlefolkpunk» läuteten die Schandmäuler zur finalen Sause ein, ein Tanz-Hüpf-Bang-Marathon, der es in sich hatte: «Krieger» und «Frei» stellten klar, dass auch in der «Anderswelt» gerockt werden kann, der Überhit «Walpurisnacht» machte aus den Fans dynamische Sprungfedern und «Der Letzte Tanz» liess auch die Zuschauer heiser werden, was Thomas ja längst schon war. Da jener sich und seine Stimme danach unbedingt erholen musste, kamen die Instrumentalisten nach kurzer Zeit alleine wieder zurück auf die Bühne, um das psychedelische «Das Mädchen und der Tod» als erste Zugabe zu intonieren. Diese gestalteten sich im Ganzen als überraschend besinnlich und romantisch: Vor einem Netz aus bunten Lampen, die eine gemütliche Gartenparty-Stimmung heraufbeschworen, gabs mit «Die Braut» und «Dein Anblick» noch was fürs Herz mit auf den Weg. Zu letzterem schlichen sich nun alle ausser Thomas von der Bühne, der gemeinsam mit dem Publikum minutenlang den Überrefrain dieses Songs weiter intonierte, solange, bis die anderen sich wieder zurück auf die Bühne gesellten, um zum endgültigen Abschluss die whemütige «Prinzessin» hervorzuholen, die das Publikum träumerisch in die warme Sommernacht entliess, die sich nach gut zwei Stunden schweisstreibendem Feiern wohlig kühl anfühlte.

Setlist:
«Wolfsmensch» - «Herren der Winde» - «Leb!» - «Lichtblick» - «Zweite Seele» - «Die Tür in Mir» - «Missgeschick» - «Anderswelt» - «Geisterschiff» - «Mitgift» - «Feuertanz» - «Der Talisman» - «Das Tuch» - «Grosses Wasser» - «Fiddlefolkpunk» - «Krieger» - «Frei» - «Walpurgisnacht» - «Der Letzte Tanz»
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«Das Mädchen und der Tod» - «Die Braut» - «Dein Anblick» - «Prinzessin»